Stormrider - Teil 146

Ich trat neben Nyra. »Wie weit noch?«, fragte ich leise.

»Meinem Gefühl nach … nicht mehr weit von den Artefakten entfernt.« Sie warf mir einen Blick aus ihrer Kapuze zu – und ich sah, dass auch sie angespannt war.

Wir folgten der nächsten Treppe weiter nach oben. Bis auf ein paar unbedeutende Kleinigkeiten wirkte alles genauso wie die Räume, die wir bereits durchquert hatten.

»Woher sollen wir wissen, dass wir den Artefakten näherkommen?«, flüsterte Nila. Wie wir alle war auch sie im Verlauf des Aufstiegs zunehmend leiser geworden – als würde der Turm selbst jedes laute Wort ahnden.

»Wir wissen es einfach. Keine Sorge, ein bisschen kenne ich mich hier aus.«, versuchte Nathiel sie zu beruhigen, doch ihr Blick blieb skeptisch.

Nach links – es war der einzige Weg, der sich uns anbot – verbreiterte sich der Gang zu einer Galerie voller Spiegel. Ich sah direkt hinein. Erst im nächsten Moment wurde mir bewusst, dass das ein Fehler gewesen war.

Ich sah mich selbst – oder Ravina? Die Gestalt im Spiegel war fließend, sie veränderte sich ständig. Als ich mich abwenden wollte, sprach sie mich an. Und obwohl es weder meine noch Ravinas Stimme war, klang sie betörend. Samten. Trügerisch.

Ich wusste, es war gefährlich – und dennoch blieb ich stehen.

»Du wirst ihn niemals finden. Gib auf. Geh zurück – zu deinen Kindern. Sie brauchen dich mehr als er. Er hat längst vergessen, dass es dich je gegeben hat.«

Im Spiegel wandelte sich die Gestalt endgültig in Ravina, die sich eng an Wrathion schmiegte. Er sah aus wie immer – ruhig, präsent – aber … geleert. Ravina lächelte mich an. Dann küsste sie ihn.

»Er hat schon immer mir gehört.«, flüsterte sie, als ob sie mich trösten wollte. »Was ihr hattet, war ein Traum. Ein Hirngespinst. Lass es los, und alles wird einfach.«

Der Klang ihrer Stimme schnitt in mich wie Eis. Mein Blut kochte. Ich ballte die Hände in meinen Handschuhen zu Fäusten.

»Einen Scheiß werde ich!«, knurrte ich und wandte mich vom Spiegel ab.

Dann erst sah ich mich um – ich war allein.

War ich zurückgeblieben? Oder hatte der Turm uns getrennt?

Ich atmete durch, konzentrierte mich, tat einen Schritt. Dann noch einen. Zuerst zögernd, dann immer schneller. Ich verließ die Spiegelhalle.

Kurz darauf schoss Nila aus einer Nische und fiel mir um den Hals. »Ich dachte, ich hätte euch verloren«, seufzte sie.

»Was hast du gesehen?«, fragte ich – es konnten ja kaum Ravina und Wrathion gewesen sein.

»Meinen Vater«, stöhnte sie. »Der gleiche Mist wie immer. Dass ich keinen Menschen lieben soll. Ich kenn das. Das kann mich nicht mehr schocken. Und du?«

Ich erzählte ihr von meiner Begegnung – oder besser: von dem, was der Turm mir zeigen wollte. Wie lange ich in der Spiegelhalle gewesen war, konnte ich nicht sagen. Minuten? Stunden? Ich griff nach meiner Taschenuhr – sie war verschwunden.

»Scheiße«, murmelte ich. »Der Turm sammelt Souvenirs.«

Nathiel, Carla und Nyra kamen fast gleichzeitig aus der Spiegelhalle. Sie sahen erschöpft aus.

»Noch ein paar von diesen lustigen Spielchen, und wir schaffen es nicht mehr vor Sonnenaufgang«, schimpfte Nyra und ließ ihren Rucksack mit einem »Klonk« auf den Boden fallen. Dann setzte sie sich seufzend hin, zog Omas Brote aus dem Gepäck und verteilte sie an uns.

»Pause«, verkündete sie. Und niemand widersprach.

Nachdem wir uns gestärkt hatten, ging es weiter. Treppe folgte auf Gang, gefolgt von weiteren Räumen, die wir alle schon kannten – und dann wieder neuen Treppen. Es fühlte sich an, als würde der Turm die unteren Stockwerke einfach oben wieder einfügen, damit wir niemals dort ankamen, wo wir hinwollten.

Manchmal kamen uns Geister entgegen, die lautlos durch uns hindurchglitten. Jedes Mal fröstelte es uns.

Wie krank, wie verblendet musste jemand sein, der sich freiwillig an so einen Ort zurückzog? Wie konnte man das länger als einen Tag ertragen, ohne den Verstand zu verlieren?

»Nun …«, antwortete ich mir im Stillen. »Wenn man schon wahnsinnig ist, hat es wohl keinen weiteren Einfluss. Richtig?«

Ein weiterer Raum. Doch dieser war anders.

In der Mitte schwebte eine leuchtend violette, überdimensionale Rune über einem steinernen Tisch. Ich wollte gerade darum herumgehen, um sie mir genauer anzusehen, als ich gegen eine unsichtbare Barriere prallte – natürlich direkt vor der Ausgangstür. Ich schnaubte genervt.

»Das ist bestimmt ein Rätsel.« Carlas Miene hellte sich auf. Rätsel waren ihre Leidenschaft – und ihre größte Stärke.

Sie trat näher, betrachtete die Rune, dann den lila Stein auf dem Tisch. Als sie ihn aufhob – erstarrte sie.

Ich eilte zu ihr, schnipste mit den Fingern vor ihrem Gesicht. Keine Reaktion. Gerade wollte ich mich umdrehen, um den anderen Bescheid zu geben, da erwachte sie – langsam, als käme sie aus einem tiefen Traum. Schweigend legte sie den Stein zurück, genau dorthin, wo er gelegen hatte, und trat einige Schritte zurück.

»Alles in Ordnung?«, fragte Nyra.

»Was ist passiert?«, hakte Nila besorgt nach.

Ich sah Carla nur fragend an.

»Es will die Wahrheit wissen«, sagte sie tonlos, ohne uns anzusehen. Dann griff sie nach ihrem Rucksack, schritt durch die Barriere – und setzte sich jenseits davon vor die Tür, um zu warten.

Nyra und Nathiel waren als Nächstes an der Reihe. Dann kam ich.

Ich nahm den Stein – und fiel.

Aber nicht ins Dunkel. Hier war es hell. So hell, dass ich blinzeln musste.

Vor mir stand eine hochgewachsene Frau. Ein weißes Gewand umhüllte sie, aus ihrer Kapuze fiel langes blondes Haar. Sie war nicht beängstigend – eher das Gegenteil.

»Teylagosa«, sagte sie, als würde sie eine alte Freundin begrüßen.

Ich schwieg. Kein Wort zu viel, keine Ablenkung. Nicht jetzt.

»Ich muss dir diese eine Frage stellen. Bist du bereit?«

Ich nickte. Keine Geduld mehr für Spielchen.

»Gut. Warum bist du wirklich hier?«, fragte sie mit einem sanften Lächeln.

Ich schluckte. Suchte nach einer Antwort, die gut klang – fand keine.

»Weil ich es nicht ertrage, dass er hier unten leidet. Weil ich es nicht mehr aushalten kann, ohne die Liebe meines Lebens sein zu müssen. Weil jede Minute zählt, bevor er wegen einer irren, eifersüchtigen Elfe stirbt. Es tut mir leid, wenn das nicht tiefgründig genug klingt – aber das sind meine Gründe.«

Ich atmete tief durch, als hätte mir jemand den Brustkorb geöffnet. Erwartete Tadel, Rückfragen, ein weiteres Hindernis.

Aber sie nickte nur.

Dann fiel ich zurück – in mein Hier, mein Jetzt – und konnte die Barriere durchschreiten.

 

Fortsetzung folgt …

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Stormrider - Part 146

I stepped beside Nyra. »How much farther?« I asked quietly.

»If my sense is right … not much farther from the artifacts.« She cast me a glance from beneath her hood – and I saw she was tense as well.

We followed the next set of stairs upward. Apart from a few minor differences, everything looked just like the rooms we had already passed through.

»How are we supposed to know we’re getting closer to the artifacts?« Nila whispered. Like all of us, she had grown quieter the higher we climbed – as if the tower itself punished loud voices.

»We’ll just know. Don’t worry, I know my way around here a bit.« Nathiel tried to reassure her, but her expression stayed skeptical.

To the left – the only direction available to us – the hallway widened into a gallery full of mirrors. I looked straight in. Only a heartbeat later did I realize that had been a mistake.

I saw myself – or Ravina? The figure in the mirror shifted constantly, fluid and changing. When I tried to turn away, it spoke to me. And though it was neither my voice nor Ravina’s, it sounded alluring. Velvety. Deceptive.

I knew it was dangerous – and yet I didn’t move.

»You will never find him. Give up. Go back – to your children. They need you more than he does. He’s long forgotten you ever existed.«

In the mirror, the figure finally settled into Ravina, who pressed herself against Wrathion. He looked as he always did – calm, poised – but… emptied. Ravina smiled at me. Then kissed him.

»He has always belonged to me,« she whispered, as if to comfort me. »What you had was a dream. A fantasy. Let it go, and everything becomes easy.«

Her voice cut into me like ice. My blood boiled. I clenched my hands inside my gloves.

»Like hell I will!« I growled and turned away from the mirror.

Only then did I look around – and realize I was alone.

Had I fallen behind? Or had the tower separated us?

I drew a breath, focused, took a step. Then another. Hesitant at first, then faster. I left the hall of mirrors.

Moments later, Nila darted out of a niche and threw her arms around me. »I thought I’d lost you,« she sighed.

»What did you see?« I asked – surely not Ravina and Wrathion as well.

»My father,« she groaned. »Same crap as always. That I shouldn’t love a mortal. I know that lecture. Doesn’t shock me anymore. And you?«

I told her about my encounter – or rather, what the tower had tried to show me. I couldn’t say how long I’d been in the mirror hall. Minutes? Hours? I reached for my pocket watch – and it was gone.

»Damn,« I muttered. »The tower collects souvenirs.«

Nathiel, Carla, and Nyra emerged almost at the same moment. They looked exhausted.

»A few more of these fun little games and we won’t make it before sunrise,« Nyra grumbled, dropping her pack with a klonk. Then she sat, sighed, pulled out Grandma’s sandwiches, and passed them around.

»Break,« she declared. And no one argued.

After we’d eaten, we continued. Stairway after hallway, followed by more rooms we already knew – and then new stairs. It felt as if the tower kept moving the lower floors upward, just to keep us from ever reaching our destination.

Sometimes spirits drifted past us, silent, sliding through our bodies. Each time sent a chill down our spines.

How twisted, how deranged must someone be to choose such a place willingly? How could anyone endure this for more than a day without losing their mind?

»Well …« I answered myself silently. »If you’re already insane, it probably doesn’t matter. Right?«

Another room. But this one was different.

In the center hovered a glowing violet rune, enormous, suspended above a stone table. I stepped around to look closer – and slammed into an invisible barrier. Of course, right in front of the exit. I huffed in annoyance.

»This has to be a puzzle.« Carla brightened. Puzzles were her strength – and her passion.

She stepped closer, inspected the rune, then the purple stone on the table. When she picked it up – she froze.

I rushed to her, snapped my fingers in front of her face. No reaction. I turned to alert the others when she suddenly awoke – slowly, like from a deep dream. Silently she set the stone back exactly where it had been and stepped away.

»Are you alright?« Nyra asked.

»What happened?« Nila added, concerned.

I looked at Carla questioningly.

»It wants the truth,« she said flatly, without meeting our eyes. Then she grabbed her pack, walked through the barrier – and sat down by the door to wait.

Nyra and Nathiel went next. Then it was my turn.

I picked up the stone – and fell.

But not into darkness. It was bright. So bright I had to blink.

Before me stood a tall woman. A white robe draped around her; long blonde hair spilled from beneath her hood. She wasn’t frightening – quite the opposite.

»Teylagosa,« she said, as if greeting an old friend.

I stayed silent. No wasted words. Not now.

»I must ask you one question. Are you ready?«

I nodded. No patience left for games.

»Good. Why are you truly here?« she asked with a gentle smile.

I swallowed. Searched for a noble answer – found none.

»Because I can’t bear that he’s suffering down here. Because I can’t keep going without the love of my life. Because every minute matters before he dies because of a deranged, jealous elf. I’m sorry if that’s not deep enough – but those are my reasons.«

I drew a deep breath, as if someone had opened my ribcage. Expected scolding, questions, another obstacle.

But she only nodded.

Then I fell back – into my here, my now – and was able to pass through the barrier.

 

To be continued …

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